Die „WELT“ gehört zu den führenden Zeitungen Europas. An einem schönen Donnerstagmorgen besuchte mich ein Team dieser Zeitung, bei mir zu Hause in Kriens: Der Journalist TOBIAS BAYER und der Fotograf HANS SCHÜRMANN.
Im Rahmen dieses Treffens entstand ein gelungenes Porträt über mich, mit dem Titel: „Schärfer als ein Schweizer Messer“. Den interessanten Beitrag, den „DIE WELT AM SONNTAG“ veröffentlichte, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:
Vorzeige-Schweizerin will die Eidgenossen retten
Bald stimmen die Schweizer darüber ab, ob kriminelle Ausländer schneller abgeschoben werden. Ausgerechnet die gebürtige Slowakin Yvette Estermann ist die Frontfrau der Volksinitiative.
Noch schweizerischer als hier oben in Kriens geht es nicht. Es öffnet sich der Panoramablick auf das Bergmassiv Pilatus. Unten leuchtet der Vierwaldstättersee in kräftigem Blau. In den offenen Einfahrten der Einfamilienhäuser sind noble Karossen geparkt. Berge, Seen und bürgerlicher Wohlstand. Kriens bei Luzern ist die Postkarten-Schweiz.
Glaubt man Yvette Estermann, dann ist dieses Idyll bedroht. Die Abgeordnete der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) erzählt von ausländischen Banden. Von Raubüberfällen. Sogar von Schießereien im Ort. Und von Toten. "Zwei Leute sind gestorben. Überall wurde hier schon eingebrochen", sagt Estermann, die mit ihrem Mann in Kriens wohnt. Mit der Katze Minusch und einem Kratzbaum im Wohnzimmer, einer Sonnenterrasse, einem Swimmingpool und einer 30 Jahre alten S-Klasse in der Garage.
"Wir hatten bis jetzt Glück. Jemand wollte nachts unser Auto stehlen. Ich werde schnell wach. Die Alarmanlage ging an. Ich rannte in die Garage. Das Auto stand noch da", sagt Estermann. "Wir haben ein Sicherheitsproblem in Kriens. Ich war schon so weit, dass ich eine Bürgerwehr ins Leben rufen wollte."
Estermann, 48, und ihre Partei wähnen die Schweiz in Gefahr. Deshalb sprechen sie sich dafür aus, kriminelle Ausländer schneller abzuschieben oder "auszuschaffen", wie es in der Schweiz heißt. Dazu haben sie die "Durchsetzungsinitiative" auf den Weg gebracht. Sollten die Schweizer Bürger sie per Volksabstimmung annehmen, würden Verbrecher ohne Schweizer Pass künftig umgehend des Landes verwiesen. Auf eine Verurteilung wegen eines weniger schwerwiegenden Delikts folgte dann künftig automatisch die Abschiebung. Ohne eine weitere richterliche Prüfung des Einzelfalls – wie es sie bislang gibt. Am 28. Februar wird abgestimmt. Das Resultat wird knapp ausfallen. Laut einer Umfrage des Gratisblatts "20 Minuten" würden 51 Prozent momentan mit Ja stimmen.
In der Flüchtlingskrise schlägt die Schweiz schrille Töne an
Eine Flüchtlingswelle rollt nach Europa. Überall, ob in Deutschland, Frankreich, Schweden oder Österreich, reden sich Politik, Medien und die Öffentlichkeit über Asyl, Abschiebung, Quoten, Terrorgefahr und Ausländerkriminalität die Köpfe heiß. "Willkommenskultur"-Idealisten, die ihre Arme ausbreiten, prallen auf "Bloß nicht zu viel Multikulti"-Skeptiker, die Grenzen schließen und die Neuankömmlinge postwendend dorthin zurückschicken wollen, wo sie hergekommen sind. In all dem lauten Meinungsgeheul ist es ausgerechnet die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie und ihren Volksabstimmungen, die besonders schrille Töne anschlägt. Wieder einmal. Das kleine Land, das als offen, liberal, besonnen, ja schon fast als langweilig gilt, ist seit einigen Jahren kaum mehr wiederzuerkennen. Polternd und turbulent geht es zu in der Eidgenossenschaft.
2009 nahmen die Schweizer die Minarettinitiative an, die einen Baustopp für die islamischen Gebetstürme vorsieht. 2014 votierten sie für die Initiative gegen Masseneinwanderung und stimmten damit dafür, den Zustrom aus dem Ausland zu beschränken. Sehr zum Ärger von Europa, das solche Kontingente als Verstoß gegen die Personenfreizügigkeit einstuft.
Die Durchsetzungsinitiative ist der nächste Streich, der das In- und Ausland aufjohlen lässt. 153 Schweizer Juraprofessoren warnten in einem Brief, dass die Volksinitiative "die schweizerische Rechtsordnung mehrfach und auf schwerwiegende Weise" gefährde. Der Wirtschaftsverband Economiesuisse hält sie gar für "unmenschlich", für "volkswirtschaftlichen Unsinn" und "enorm schädlich" für den Ruf des Standorts Schweiz. Joe Jimenez, US-Vorstandschef des Pharmakonzerns Novartis, fürchtet, dass Ausländer wegen der steigenden Repressalien nicht mehr in der Schweiz arbeiten wollen: "Ich hoffe, dass die Schweizer sich überlegen, wie sie handeln."
Hinter all den Initiativen steckt die SVP, die bei den Parlamentswahlen im Oktober 2015 fast 30 Prozent der Stimmen holte und die anderen Parteien klar hinter sich ließ. Die rechtspopulistische Partei wird nach wie vor dominiert von Christoph Blocher. Dem Züricher Milliardär, der, mit seinem schweren Kiefer mahlend und mit grimmigem Blick, gegen die EU wettert. Der in die Schwinger-Hosen steigt – die Uniform des hochalpinen Ringers –, um die schweizerische Urkraft zu betonen. Der den Gotthardpass erklimmt und von dort oben das Loblied auf die freie Eidgenossenschaft anstimmt, die den ausländischen Mächten trotzt.
Nationalrätin Estermann ist eines der neuen Gesichter der SVP. Sie ist das charmante Antlitz der Schweizer Scharfmacher. "Erfrischend anders" heißt ihre Biografie. Der Titel ist Programm. Was bei Blocher immer etwas bissig klingt, sprudelt aus Estermann fröhlich heraus. Sie hat ein mitreißendes Lachen. Feine Züge lassen sie deutlich jünger erscheinen. Sie gibt sich uneitel, die grauen Strähnen in ihrem Haar färbt sie nicht nach. "Die habe ich mir verdient." Ihr Haus ist keine sterile Designwüste, sondern ein trautes Heim, in dem wirklich gelebt wird. Zeitschriften, Brettspiele, selbst gemalte Bilder und ein Weihnachtsbaum. In der Ecke liegt ein Kissen, auf dem ein Glückskäfer mit Blume gestickt ist. Ein Geschenk zum Einzug ins Parlament.
Erstaunlich aber ist ihre Herkunft: Die Muster-Schweizerin Estermann stammt nämlich aus Bratislava in der Slowakei. Nach ihrem Medizinstudium zog sie 1993 zu ihrem Mann in die Schweiz. Heute ist sie Doppelbürgerin. Allerdings ohne slowakischen Pass. "Denn die Slowakei ist in die EU eingetreten. Und da habe ich etwas dagegen. Ich warte jetzt einmal, bis es die EU nicht mehr gibt. Dann schauen wir."
Für Estermann kam nur die SVP infrage
Estermann ist zwar graziler, und sie kommt auch woanders her als der durchschnittliche SVPler. Doch sie liegt voll auf Parteilinie. Als sie in den Neunzigerjahren beschloss, in die Politik zu gehen, sei für sie nur die SVP infrage gekommen. "Sie war damals die einzige Partei, die sich für die Schweiz einsetzte, für die Traditionen und die Freiheit. Ich habe gern Ecken und Kanten." Die FDP? "Nein, die waren mir zu glatt." Sie ist gegen die EU. Sie wünscht sich einen schlanken Staat. Sie ist hart in Fragen der Immigration. So schlug sie ein Punktesystem für Zuwanderer vor. Nur derjenige, dessen Beruf gerade in der Schweiz gesucht wird, hätte so Chancen, ins Land zu kommen.
In vielerlei Hinsicht ist Estermann schweizerischer als viele Schweizer. Zum Interview erscheint sie mit einer Schweiz-Krawatte. Auf ihrem Mantel prangt die Luzerner Fastnachtsplakette. Mit ihrem Mann spricht sie im Schweizer Dialekt. Mit leichtem Akzent, den mancher aber nicht in Bratislava, sondern im Bündner Land verortet. Wenn es ihr Terminplan zulässt, dann pilgert sie an die Ruhmesorte der Schweizer Geschichte. Aufs Rütli. Nach Morgarten. Oder ins nahe gelegene Sempach, wo die Eidgenossen der Legende nach anno 1386 die Habsburger besiegten.
Die SVP unter Blocher nutzt die Schweizer Mythen und das Instrumentarium der direkten Demokratie virtuos. Früher habe in der Schweiz "ein bürgerliches Kartell" aus der SVP, der liberalen FDP und der christdemokratischen CVP bestanden. Dieses geschlossene Lager habe stets dafür gesorgt, dass am Ende pragmatische Ergebnisse herausgekommen seien. Mit dem Auftritt des "Kartellbrechers" Blocher in den Neunzigerjahren sei das "Gewebe der Eliten", das früher allzu hitzige Debatten zurückgehalten habe, durchlässiger geworden, sagt Michael Hermann, Geschäftsführer des Forschungsinstituts Sotomo: "Blocher hat im bürgerlichen Lager einen Wettbewerb entfacht."
Die Durchsetzungsinitiative habe in diesem Ringen um den Wähler die nächste Eskalationsstufe dargestellt, sagt Hermann. Sie käme de facto einer Entmachtung des Parlaments gleich. Denn: Bereits 2010 stimmten die Schweizer für die Ausschaffungsinitiative und damit dafür, kriminelle Ausländer schneller des Landes zu verweisen. Das Parlament setzte die Vorlage um, einigte sich allerdings auf eine Härtefallklausel. Die SVP war mit dem Ergebnis unzufrieden und lancierte einfach die nächste Volksabstimmung. "Wenn sie damit durchkommt, wäre ein Präjudiz geschaffen."
Estermann kann den Aufschrei aus den Hörsälen und Top-Etagen der Firmen nicht verstehen. Die Schweiz müsse die Zuwanderung begrenzen. Jedes Jahr kämen 80.000 Menschen ins Land. In den 20 Jahren, in denen sie in der Schweiz lebe, habe sich viel verändert: "Früher gab es noch freie Plätze in der Bahn, viel weniger Autos fuhren auf den Straßen, die Menschen waren freundlicher und freier, weil sie nicht diesen Druck hatten. Jedes Land verträgt nur eine bestimmte Menge von Neuankömmlingen."
Die Durchsetzungsinitiative sei keineswegs ausländerfeindlich. "Es geht um Schwerverbrecher. Das Ausland macht das Gleiche. Deutschland verschärft die Gesetze. Schweden schiebt sogar Flüchtlinge ab", sagt Estermann. "Es ist nur unser Recht, dass man Kriminelle, die man ausschaffen kann, auch ausschafft. Das sollte normal sein." Auch dass die Einzelfallprüfung entfallen würde, sei nichts Anstößiges oder Ungewöhnliches. "Wenn ein Raser mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Autobahn geblitzt wird, dann gibt es da auch keinen Spielraum. Dann wird nicht gefragt, ob es das erste Mal war."
Statt mit dem Finger auf die Schweiz zu zeigen, solle sich Europa lieber ein Beispiel an der Eidgenossenschaft nehmen. "Ich sehe die Schweiz als Vorreiter. Und die EU muss langsam nachziehen. Ich hänge einfach der Idee an, dass die Schweiz als kleines Land, wo Leute noch etwas zu sagen haben, vorangehen kann und muss. Das ist unsere Pflicht", sagt Estermann. "Gute Sachen sollten kopiert werden."
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